Für die Kunst leben und nicht von ihr
Die soziale Herkunft definiert in unserer Gesellschaft die Klasse und die Zugehörigkeit der Menschen untereinander. Das klingt grausam und das ist es auch. Aber ohne das Bewusstsein von Klasse wäre unsere Gesellschaft gar nicht begreifbar. Herrschende Zustände und Gegebenheiten lassen sich überhaupt nur hinreichend erklären, verständlich auf den Punkt bringen, wenn der entscheidende Faktor soziale Herkunft mitgedacht wird. Von der Identitätsbildung eines Menschen ganz zu schweigen.
Ohne Sexualität und ohne ein Bewusstsein einer Herkunft, fällt es Menschen schwer, ein Ich zu konstituieren. Oder, anders ausgedrückt: Sexualität und (soziale) Herkunft sind Prägungen des Menschen, die er mit seiner Geburt auferlegt bekommt. Er wird mit Geschlecht und Klassenstatus in eine Gesellschaft integriert und bekommt dadurch seine Funktion als Subjekt zugesprochen. Es ist eine Entscheidung, die der Mensch nicht selber treffen kann – sie wird mit ihm in die Wiege gelegt. Ab diesem Punkt prägt die soziale Herkunft das Ich eines Menschen und bestimmt den von der politischen Verfasstheit der Gesellschaft vorgezeichneten Lebensweg. Triumphiert das Individuum über seine festgelegte soziale Herkunft, befreit es sich also durch Bildung von seiner Klasse, verändert sich seine Identität. Es bildet sich eine Kluft.
Der lange Weg eines Kindes der Arbeiterklasse in die Institutionen des Bildungsbürgertums
Mein Vater ist gelernter Tischler, wechselte über einen Onkel in die Automobilindustrie. Vom Tischler zum Kfz-Schlosser. Statt Tische, schraubte er am Fließband Autos zusammen. Er selber besitzt bis heute keinen Führerschein. Auch meine Mutter nicht. Meine ältere Schwester machte ihren während ihrer Ausbildung zur Arzthelferin. Ein Führerschein ist für mich bis heute immer noch ein Luxusgut. Viele meiner ehemaligen Schulkollegen und -Kolleginnen haben ihren Führerschein während ihres Abiturs gemacht – nicht alle haben den von ihren Eltern bezahlt bekommen, viele arbeiteten neben der Schule bei ihren Eltern oder hatten andere Gelegenheitsjobs. Irgendwie sah ich während dieser Zeit nie die Notwendigkeit, mein gespartes oder erarbeitetes Geld für einen Führerschein anzulegen. Wir wohnten mitten in der Stadt, gut angebunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Heute ärgert es mich schon, dass mich niemand über die Notwendigkeit der Fahrerlaubnis aufgeklärt hat. Tatsache ist, dass dieser Lappen für unendlich viele Jobs gebraucht wird, beziehungsweise dafür Voraussetzung ist. Und ich mittlerweile verstanden habe, dass die gesellschaftliche Struktur öffentliche Verkehrsmittel hauptsächlich für eine niedere Klasse vorgesehen hat – unabhängig davon, dass öffentliche Verkehrsmittel klimafreundlich sind, mehr oder generell in sie investiert und sie weiter ausgebaut werden sollten. Für Deutsche ist das Auto ein Prestigeobjekt. Es verschafft Autonomie und ein anderes Bewusstsein der eigenen Klasse, indem die Angewiesenheit auf öffentliche Verkehrsmittel aufgelöst wird, und sich die Prestigeobjekt-Eigner voller Stolz von der vorausgesetzten Klasse abheben können.
Das Auto als Prestigeobjekt des Deutschen
Wie meine ältere Schwester – sowie meine Eltern und Tanten – ging ich auf eine Hauptschule, machte meine Fachoberschulreife, lehnte aber einen Ausbildungsplatz ab. Ich hatte ein Angebot bei der Bezirksregierung im Bereich Bürokommunikation. Heute frage ich mich schon, was wäre, wenn ich kein Abitur gemacht hätte und wie dann mein Verhältnis zu meiner Familie wäre. Mit dem Segen meiner Eltern ging ich aufs Gymnasium. Ich hatte sie gefragt, ob es in Ordnung wäre, wenn ich noch weiter zu Hause wohnen bliebe. In dem Moment war es für sie kein Problem. Ich denke, sie hatten gar nicht verstanden, was dieser Schritt bedeutete und welche Konsequenzen er für sie haben würde. Erst im Nachhinein wurde ich immer wieder von meinem Vater gefragt, wie lange ich noch gedenken würde zur Schule zu gehen, wann ich ausziehe und zu arbeiten anfangen würde. Meine Eltern und meine Familie hatten gar keinen Begriff für so einen Werdegang wie meinen. Sie haben gar nicht verstanden, wie anstrengend es für mich war, von einer Hauptschule, wo wir im Kunstunterricht Mandalas ausmalten, auf ein Gymnasium zu wechseln, in dem Kunst eine Geschichte mit Bildern hatte.
Der Berufszweig der Künste ist nicht für die Arbeiterklasse vorgesehen
Dasselbe Szenario gab es dann nochmal bei meinem Schritt zum Studium. Direkt war es kein Problem, aber indirekt war es meinen Eltern doch lieb, wenn ich endlich mal ausziehen und wie meine Schwester mein eigenes Geld verdienen würde. Immer wieder wurde ich darauf hingewiesen, dass ich mir doch endlich eine Arbeit suchen solle. Viel zu spät und mit großer Tragik bin ich – natürlich ohne irgendein Kapital – mit Mitte 20 von zu Hause ausgezogen und in eine für mich viel zu teure Wohnung in Uni-Nähe eingezogen.
Hineingerutscht in den Berufszweig der Künste, wurde mir nach meinem Studium schnell deutlich, dass ich als Kind der Arbeiterklasse keine Chancen in diesem Berufszweig haben werde. Mir fehlt das Kapital, welches ich für meine Existenz benötige. Engagements haben in der Regel schlechte Konditionen und eine schlechte Vergütung. Ferner fehlt mir das Netzwerk, das viele Kunstschaffenden aufgrund ihrer sozialen Herkunft mitbringen. Oftmals ist selbst das bei Gesprächen zu Engagements ein Tabuthema. Die Bewerberin soll ja für die Kunst leben und nicht von ihr.
Bewerberin soll ja für die Kunst leben und nicht von ihr
Paradoxerweise hält sich der ganze Bereich um die darstellenden Künste für sehr sozial, tolerant und aufgeschlossen. Und versucht, diskriminierende Strukturen unserer Gesellschaft aufzudecken und in künstlerischen Arbeiten zu thematisieren. Erstaunlicherweise wird über die soziale Herkunft so gut wie nie gesprochen, vermutlich weil es ein genereller Konsens ist, dass die verachtete Unterschicht – für die Theater ja immer wieder zugänglich gemacht werden soll – niemals dort auftauchen wird.
Zuerst erschienen auf „Der lange Weg ins Bildungssystem – Autobiografische Fragmente“ von Dock11 in Berlin.