Blutig-blinde Flecken der Gesellschaft
Berlin • Pünktlich zum goldenen Herbst präsentiert die Schaubühne ihre 20. Ausgabe vom Festival Internationale Neue Dramatik (29. September bis 10. Oktober 2021) -nachdem es im Vorjahr wegen der Pandemie ausgefallen war-. Assoziativer Schwerpunkt der Festivaledition ist „Gegenbild und Gegenmacht“. Ein Versuch mit Artist in Focus, Angélica Liddell und mit Arbeiten wie von Katie Mitchell, Selina Thompson oder Alexander Zeldin auf die blinden Flecke unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen. Inhalte und ästhetische Strukturen werden im 20. FIND gebrochen und hinterfragt. Eröffnet wurde das Festival mit der Uraufführung von Mitchells „Kein Weltuntergang“.
„Das ist ein Privileg“, kommentiert bissig die weiße Klimaforscherin Prof. Dr. Uta Oberdorf (Jule Böwe) den Exkurs der schwarzen Bewerberin Dr. Anna Vogel (Alina Vimbai Strähler) im Gespräch um die Post-Doc-Stelle an ihrem renommierten Institut für Kilmaforschung. Vogel sprach von über 100 Millionen indigene Kolonisierungstote seit 1492, eine demographische Katastrophe und Teil der Geschichte der europäischen Expansion. Laut der Klimaforscherin Oberdorf hat erst vor 30 Jahren das Zeitalter des Anthropozäns begonnen. Sie erwidert weiter den Exkurs über die demographische Katastrophe mit den Worten, dass den schmelzenden Polarkappen die Hautfarbe nicht interessiere. Und spielt damit auf eine aktiv agierende Position gegen klimatische Veränderungen an, die der Mensch heute -unabhängig von rassistischen Stereotypen- einnehmen könnte.
Das Drei-Frauen-Stück „Kein Weltuntergang“ von der britischen Autorin Chris Bush versucht über die Theorie der möglichen Welten (des Philosophen Saul A. Kripke) diverse Perspektiven der globalen Klimakrise einzunehmen, um sich mit dem Hyperobjekt Klimakatastrophe auseinanderzusetzen. Regisseurin Mitchell, die das Gegenwartsdrama von Bush an der Schaubühne (4. September 2021) uraufführte, konstruierte dafür ein klimaneutrales Setting (Bühne und Kostüm, Chloe Lamford), in dem die drei Frauen, gefangen in einer Zeitschleife, fragmentarisch Gesprächssituationen mit unterschiedlichen Narrativ spielen. Immer wieder gehen die drei Türen auf und zu. Einmal kommt Frau Dr. Vogel zu spät, ein anderes Mal hat Frau Prof. Dr. Oberdorf keine Zeit.
Im Laufe der möglichen Welten gleicht die zersplitterte Form des Textes einer linearen Erzählung, in dem die ambitionierte Post-Doc-Forscherin Anna Vogel ihren Traumjob am Institut für Klimaforschung bekommt. Sie adoptiert aus klimaökonomischer Sicht ein Kind names Lena (Veronika Bachfischer). Und stirbt unerklärlich auf einer Arktis-Expedition. Lena (Veronika Bachfischer) ist der stringente Charakter von Bushs „Kein Weltuntergang“. Zu Beginn betritt sie die Bühne mit einer Urne, dekoriert den ansonsten kahlen Bühnenraum mit Kunstblumen und einen Eisbären. Während dem Spiel zwischen Anna und Uta, zitiert sie Studien, Konventionen, Fabeln über das Hyperobjekt Klimakrise. Sie beschreibt unser Zeitalter als „Goldglöcken-Zone“, weil der Mensch wie die Märchengestalt Goldglöckchen den (Eis-)Bären die Nahrung raubt, in deren Lebensraum eindringt und einen zerstörten Haushalt hinterlässt. Zum Ende des Stücks wird deutlich, dass jede Person Anna sein kann, das heißt ein engagierter Mensch, der sich aktiv für den Klimaschutz einsetzt. „But none of all helps“, weil die Welt letztendlich wie die Forscherin Anna Vogel an alles gestorben sein wird.
Was es bedeutet als schwarze Frau in einer globalisierten Welt mit Kolonialgeschichte zu leben, untersucht die Performerin Selina Thompson in ihrem Film „salt: dispersed.“; die Inszenierung „salt.“ ist aufgrund von Erkrankung ausgefallen. Direkt zu Beginn berichtet die Britin Thompson von rassistischen Vorfällen in ihrem Alltag und der immer wiederkehrenden Frage, „where are you really born?“ -die meisten Engländer sind weiß-. Sie spricht von einem rassistischen Lehrer, der seinen Schülern erklärt, dass schwarze Menschen schwarz sind, weil sie laut einer Sage faul seien und die „Waschung“ verschlafen haben. Sie erzählt von einer mantrischen Abwehrhaltung, „you pushed against me, i pushed back“. Ein Versuch sich innerlich von den rassistischen und misogynen Anfeindungen zu distanzieren. Ihre Monologe wirken im Film sehr nah und emotional. Sie treffen tief in die europäische Gegenwart und in die europäische Kolonialgeschichte hinein.
Über das Nachleben der Sklavenroute ihrer Vorfahren an Board eines kommerziellen Containerschiffs, berichtet sie eindrücklich über ihre koloniale Vergangenheit. Mehrere Millionen schwarze Sklaven -darunter auch ihre Vorfahren- haben den Grundstein für den heutigen europäischen ökonomischen Erfolg gelegt. Zu recht betont sie, dass Europa seine Hände in Blut wäscht.
Dass nur ein sehr geringer Teil der Weltbevölkerung etwas von einer guten wirtschaftlichen Struktur spürt, zeigt die Arbeit „Love“ vom britischen Autor-Regisseur Alexander Zeldin. Sie ist der letzte Teil von Zeldins Triologie „The Inequalities“; andere Teile sind „Faith“ und „Hope and Charity“. Die hyperreale Inszenierung „Love“ lässt die Zuschauer einen Einblick in eine Notunterkunft für Wohnungslose werfen. Dort leben auf engsten Raum eine Patchworkfamilie (Janet Etuk, Joel MacCormack, Amelia und Oliver Finnegan), Sohn mit pflegebedürftiger Mutter (Daniel York Loh, Amelda Brown) und eine junge Frau (Hind Swareldahab) zusammen. Sie teilen sich Küche und Badezimmer. Die Einrichtung ist als Übergangsstation gedacht für Menschen, die vor der Wohnungsnot stehen und das Anrecht auf staatliche Wohnungsvermittlung haben.
Darauf setzt zumindest die Patchworkfamilie, welche aufgrund von Mieterhöhung ihre Bleibe zwangsräumen musste. Über die anderen Bewohner der Unterkunft erfahren sie, dass diese schon ein knappes Jahr auf die Vermittlung einer Wohnung warten. Die Inszenierung „Love“ schafft es mit ihrer realistischen Art ein Spiegelbild von den Berliner Mietverhältnissen zu schaffen. Auch in der deutschen Hauptstadt sind viele Menschen von Wohnungsnot bedroht. Hier leben Familien teilweise in beengten Wohngemeinschaften oder Wohnungen, weil sie sich keine angemessene Bleibe leisten können.
Einen starken Kontrast zu den hyperrealen Arbeiten der 20. FIND-Ausgabe (fern von alltäglichen Diskursen) bieten Angélica Liddells Werke „Liebestod“ und „the Scarlet Letter“. Die Regisseurin arbeitet hier wie gewohnt provokativ, konstruiert Extreme in Bild und Wort. Ihre Texte beziehen sich auf hochkarätige Literatur, wie Richard Wagners „Tristan und Isolde“oder Antonin Artaud „Theater der Grausamkeiten“. Die Performance „Liebestod“ ist eine Art von Hommage an den spanischen Stierkämpfer Juan Belmonte und bedient sich einer Blutmetapher aus dem Stierkampf. Für ihr performatives Blutritual tunkt sie beispielsweise Brot in ihr eigenes Blut und verspeist es oder schneidet sich mit einer Rasierklinge Hände und Füße auf. Liddell bleibt in ihren neuen Arbeiten definitiv ihrer artifiziellen Theaterkunst treu und gilt laut dem Dramaturgen Florian Borchmeyer als „bedeutendste Textperformerin der Welt“.
Das Festival läuft noch bis zum 10. Oktober 2021 und präsentiert viele weitere spannenden Arbeiten aus dem Bereich der Gegenwartsdramatik, wie „Outside“ vom russischen Regisseur Kirill Serebrennikov oder Thomas Ostermeiers Inszenierung mit dem französischen Schriftsteller Édouard Louis „Wer hat meinen Vater umgebracht?“(„Qui a tué mon père“).
Einige Arbeiten aus dem FIND Programm befinden sich bereits im Repertoire der Schaubühne und lassen sich nachträglich anschauen, wie die klimaneutrale Inszenierung von Mitchell oder die Arbeit von Ostermeier. Geplant ist auch ein Remake von Alexander Zeldins „The Inequalities“ mit dem Schaubühnen Ensemble.
20. Ausgabe von FIND (Festival für Internationale Dramatik) – Schaubühne Lehniner Platz
Spieltermine: 29. September 2021 – 10. Oktober 2021,
https://www.schaubuehne.de
Foto: Richard Davenport (aus „salt.“, Selina Thompson)