Da steckste nicht drin

Gefangen, verschleppt und isoliert präsentiert Hans-Werner Kroesinger Matthias Hermanns Charaktere in DIE LUFT HIER: SCHARFGESCHLIFFEN während des INFEKTION! Festival für neues Musiktheater (23. Juni – 16. Juli 2016). Sie haben keine Luft zum Atmen, kein Zeitgefühl und beginnen ihren Verstand zu verlieren.

Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. (Ulrike Meinhof)

Die Gefangene (Olivia Stahn), Ulrike Meinhof, befindet sich nach den Sprengstoffanschlägen mit Todesfolgen, die sie mit der RAF begangen hat, in der Haftanstalt Köln-Ossendorf. Isolationshaft. Um sie herum drei Frauen (Stelina Apostolopoulou, Jelena Banković, Ivi Karnezi) die Zisch-Laute von sich geben. Alles abstrakt, sonderbar und weiß. Klänge kommen ganz plötzlich und verschwinden dann wieder. Stille. >>Da man die Stille nicht bekämpfen kann, kann man nur das bekämpfen, was mit einem, an einem selbst passiert – schließlich bekämpft man nur sich selbst<<. Klang. Das fantastische Wesen eines Dschinn (Martin Gerke) -der irgendwie an Batmans Rivale Joker erinnert- tritt auf, verteilt Töne im Raum, verschwindet und lässt den Dichter (Thomas Wittmann), Ossip Mandelstam, von der Realität des Straflagers berichten. Gemeinsam vergegenwärtigen alle Charakter die Isolation. Schreibend verhalten sie sich zur Welt, leisten dadurch Widerstand gegen politische Verhältnisse.

Die Gefangene: Olivia Stahn, Foto: David Baltzer.

Wie in einer Zelle gefangen, treffen Zuschauer, Musiker und Darsteller in einer Rauminstallation aufeinander. Nehmen mitten im Bild Platz und sind Teil der Szenerie. Irgendwie ist alles sehr abstrakt, nur selten fallen längere Textpassagen oder ganze Musikstränge. Fragmente aus Worten und Klängen bilden die Partitur des Abends. Dadurch fällt es schwer die komplexe Thematik des Stücks zu erfassen. Es bedarf seiner Zeit sich auf das Geschehen einzulassen, um nachzuvollziehen und empfinden zu können, was passiert; beziehungsweise, um die verschieden Perspektiven der Charaktere zu begreifen. Um zu verstehen, dass sich diese Menschen innerhalb ihrer Isolation, schreibend mit den Umständen befassen, die sich außerhalb ihres Selbst befinden. Durch die Abgeschiedenheit ihre Orientierung verlieren; und Stimme und/ oder Sprache brauchen, um sich ihrer Selbst gewiss zu werden.

Das experimentelle Musiktheater DIE LUFT HIER: SCHARFGESCHLIFFEN von Matthias Hermann (Inszenierung: Hans-Werner Kroesinger) passt perfekt ins Konzept des INFEKTION! Festival. Die zersplitterte Form aus Text und Klang, die die unterschiedlichen Perspektiven der Charaktere ermöglicht, ist analog mit dem Zusammenbruch von politischen Strukturen zu verstehen. Und schafft durch die drei weiß gekleideten Frauen, die auf Kinderlieder und -spiele zurückgreifen, über Ton und Gesang identitätsstiftende Momente und Zugehörigkeiten unter den Darstellern. Im Jahr 1994, in dem DIE LUFT HIER: SCHARFGESCHLIFFEN ihre Uraufführung feierte, kam ein (aggressiver) Nationalismus auf, der mitten in Europa eine Gewaltpolitik auslöste (Bosnienkrieg 1992-1995) und erneut Lager schaffte, in denen Menschen wegen ihrer Herkunft, Religion, ihrer Zugehörigkeit gefoltert und ermordet wurden (Genozid von Srebrenica 1995). Auch heute im 21. Jahrhundert befinden wir uns mitten in Europa in einem politischen Umbruch. Die Union droht auseinander zu fallen, der Nationalismus mit rechten Gedankengut ist wieder stark in der Politik präsent. Somit ist das experimentelle Musiktheater DIE LUFT HIER: SCHARFGESCHLIFFEN mit etwas Vorlauf ein gelungenes Stück, welches in seiner Form den Zerfall der Gemeinschaft und die Gegenwart der (politischen) Isolation, die in Nationalismus mündet, anspricht.

DIE LUFT HIER: SCHARFGESCHLIFFEN| 6. und 10.7.2016, 19h| 8.7.2016, 20| Karten unter: http://www.staatsoper-berlin.de/de_DE/calendar-2015-2016/die-luft-hier-scharfgeschliffen.13162074 oder (0)30 – 20 35 45 55.

Programm zum Festival| http://www.staatsoper-berlin.de/de_DE/infektion-festival-2016

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