Loblied auf das emanzipierte Geschlecht
„Nothing exist“ brüllen die adeligen Partygäste während sie tanzend durch die nebeligen Clubs der Londoner Society streifen. Mit dabei die junge Orlando, eine britische Schriftstellerin. Sie ist vor einigen Tagen in Konstantinopel als Botschafterin eingetroffen und eigentlich auf der Flucht vor ihrer hartnäckigen Verehrerin, der Erzherzogin Harriet. Orlando war vor ihrer Ankunft in die muslimische Stadt ein viel umworbener Mann. Ein mehrtägiger Schlaf aufgrund sozialer Unruhen, ließ sie zur Frau werden. Nun feiert Orlando, wie sie es gewohnt ist, ausgiebig und mit vielen Sexualpartnern; bis sich die Zustände zuspitzen und sie zur Rückkehr nach England gezwungen ist.
Regisseurin Katie Mitchell inszeniert mit viel Feingefühl für Geschlechterfragen an der Berliner Schaubühne Virginia Woolfs Roman „Orlando“ (Premiere 5. September 2019) und trifft mit ihrer Vorliebe zum Film den Kern von Woolfs Roman. Sie lässt das Publikum beschämt auf die sexualisierte Frau Orlando schauen, welche durch die unterschiedlichen Sexualpartner zur Hure wird. Der männliche Orlando hat beim Herumhuren gesellschaftlich mehr Anklang gefunden. Die junge Orlando, hier gespielt von Jenny König, sieht sich durch die Erzählerin (Cathlen Gawlich), immer wieder mit dem konstruierten Geschlecht (auch benannt als Gender) konfrontiert. Die gesellschaftlichen Anforderungen an ein bestimmtes Geschlecht wandeln sich wie Orlando durch die unterschiedlichen Zeitalter. In vielen Ebenen erarbeitet die Regisseurin das Gender satirisch heraus. Beispielsweise erfährt die weibliche Orlando sich als heiratsfähiges Subjekt und begegnet ihrem zukünftigen Verlobten auf einem weißen Pferd; hier bedient sich die Regisseurin eines überlieferten Märchen-Bildes. Mitchells Bühnenfassung spielt auf einem Filmset mit Live-Video in minutiöser Abstimmung, ergänzt sich mit Videoaufnahmen und einer Erzählerin, die unter anderem Teile aus Woolfs Roman vorliest. Mit fast 90 Kostümwechsel ist das Bühnengeschehen eine beeindruckende Leistung. Wobei der Blick zum größten Teil des Abends auf die bühnenbildimmanente Leinwand fällt, anstatt auf die Bühne selbst. Intensiver als gewohnt vermischt Mitchell das Genre Film mit Theater, was ihr einen größeren Spielraum ermöglicht, gleichzeitig aber wegen den Übergängen eine (zeitliche) Herausforderung beschert; die sie mit ihrem Team gut meistert. Ensemblemitglied Jenny König verkörpert die Figur Orlando in seinen beiden Geschlechterrollen passend und kritisch, sodass die gewonnene Emanzipation vom Gender glaubhaft zu einer notwendigen Befreiung des Sexes führt. Mitchell behandelt das Gender in ihrer Inszenierung „Orlando“ wie ein Kostüm und kleidet ihre Schauspieler, wie die hübsche blonde Erzherzogin Harriet (Konrad Singer), situationskomödiantisch. Die anmutige Blondine outet sich schließlich als Mann, um Orlando zu verführen. Problematisch an dieser Bühnenfassung bleibt, dass der Mann noch immer als natürlicher Mensch gesehen wird und die Frau sich von einem aufgedrängten Konstrukt befreien muss. So bleibt das Bild kritiklos bestehen, der Mann sei das ursprüngliche Subjekt.
Weitere Vorstellungen von „Orlando“ an der Schaubühne Berlin: 11.9., 12.9., 13.9., 25.10., 26.10., 27.10. 2019 Karten unter: 030 890023 oder ticket@schaubuehne.de