ZWEI UHR NACHTS| Das moderne ICH auf der Suche nach dem authentischen Selbst in Frankfurt
Angetrieben von existentiellen Fragen, begeben sich Falk Richters Charaktere in „ZWEI UHR NACHTS“ am Schauspiel Frankfurt (Bockenheimer Depot) auf die Suche nach dem „Anderen“ und dem „authentischen Leben“, welches ihr Selbst in unserer transparenten Optimierungsgesellschaft definieren soll.
In was für einer Welt leben wir? – Permanent muss der Mensch sich „Überforderungen“ aussetzen, sei es in Beziehungen, in der Arbeitswelt, die mit Wohlfühlmaßnahmen auf das Intime zugreifen wollen –das sogenannte Private, welches das Innenleben des Selbst definieren soll–, um eine Produktivitätssteigerungen zu erzielen; oder aber Bilderfluten von unterschiedlichen Medien, die in einen hineindrängen als ob es kein Morgen gäbe. Überall Überforderungen, die ständig von den Fragen: Ist das MEIN Leben? Wie bin ich in dieses Leben hineingeraten? Lebe ich FÜR JEMAND ANDERES? begleitet werden.
Falk Richters Charaktere stehen in „ZWEI UHR NACHTS“ mitten im Leben, beschreiben gegenwärtige Zustände des modernen Leistungssubjekts, in dem sie unter anderem mit ihren Körpern in Form von Tanz die Spuren unserer transparenten Optimierungsgesellschaft offenbaren. Dabei bilden Sprechtempo, Musik, Stimme und Bewegung eine Art musikalische Partitur, die als Ausdrucksmöglichkeit emotionaler Zustände dient und zugleich die Räume öffnet, in der Sehnsüchte verbannt wurden. Im Schauspiel „ZWEI UHR NACHTS“, das ein Auftragswerk für die „Frankfurter Positionen 2015“ ist, wissen die Menschen nicht, wie sie weiterleben sollen, wohin das Leben sie führen wird, beziehungsweise „Warum ist überhaupt etwas und nicht viel mehr nichts?“, um es mit Leibniz Worten zu komprimieren. Hin und Her gerissen von den verschiedenen Möglichkeiten, die ein zufriedenes Leben versprechen, verlieren sich Richters Charaktere als Prototypen unserer Gegenwart in Arbeits- und Liebesleben, Einsamkeit, Verzweiflung und Zerstörungswut. Wo bleibt aber das ICH unter all den Möglichkeiten?
„WER IST DIESER MANN?“, fragt sich auch Marc Oliver Schulze, nachdem Constanze Becker mit dem Mann telefoniert hat, der anscheinend lieber Radiohead hört, anstatt sich um seinen Job zu kümmern. Ja, WER IST DIESER MANN? Von dem der begnadete Schauspieler Marc O. Schulze voller Elan, atemlos erzählt. „Wieso hat [dieser Mann] seit drei Tagen sein Handy nicht mehr eingeschaltet? Warum hat er gestern Nacht um 1 Uhr 57 seinen Skype Account gelöscht und anschließend unter einem anderen Namen neu eingerichtet? Warum sitzt er unterhalb des Fensters eines Hotelzimmers in einer Stadt, in der er in diesem Augenblick […] NICHT sein sollte und – ja was? Weint? […] Was vermisst er? […] Wer bist du? […] Wie bin ich in dieses Leben hineingeraten? Ist das MEIN LEBEN?“. ZWEI UHR NACHTS: Getrieben von Identitätsproblemen und der Frage, wie möchte ich Leben? Suchen Richters Darsteller Ventile um den permanenten gesellschaftlichen Anforderungen, die in einer agonischen Überforderung enden, zu entgehen. Leider ohne Erfolg. In einen Loop gefangen, jagen Ausbeutung und Enttäuschung sich gegenseitig. Die Firma möchte die neue Familie sein und interessiert sich brennend für das Innenleben seines Arbeitnehmers, damit sie ihn nach seinen Präferenzen motivieren kann, um dadurch einen Mehrwert zu erzielen, welcher dem Kapital zugutekommt. Und die Eltern, die sich eigentlich für das Innere ihres Kindes interessieren sollten, wissen gar nicht wer ihr Kind ist und versteifen sich auf Floskeln und halbherzige Gespräche. Neben dem Einblick in unsere immer sich selbst optimierende Postmoderne, sei es das Selbst oder die technologischen Errungenschaften, ist da noch die Frau.
[caption id="attachment_397" align="aligncenter" width="660"] Foto: Birgit Hupfeld_Lisa Stiegler_Jojanna Lemke_Jorijn Vriesendorp.[/caption]Lisa Stiegler kritisiert in ihrem Monolog die gesellschaftliche Stellung der Frau, in dem sie sich immer wieder selbst verneint und aufzeigt, dass sie ein Mensch ist, der versucht sich von der Gesellschaft und den Anforderungen an das weibliche Subjekt abzugrenzen. „Ich bin keine Frau, die 0,1% Fettprodukte isst […] Ich bin keine Feministin, keine Emanze […] oder vielleicht doch?“. Dieser Moment ist eins der stärksten und aussagekräftigsten Szenen, dies mag sicherlich an der hervorragenden schauspielerischen Leistung von Lisa Stiegler liegen, aber auch an den atemberaubenden Tanzeinlagen von Johanna Lemke und Jorijn Vriesendorp, die bedauerlicherweise in „ZWEI UHR NACHTS“ etwas zu kurz kommt. Johanna Lemke tanzt völlig verstört, hektisch, überfordert vom Dasein und zieht somit die Zuschauer in ihren Bann. Etliche Male versucht sie sich eine Zigarette anzuzünden; leider vergeblich, heutzutage kann mensch nicht mal mehr in Ruhe eine Zigarette rauchen.
WER ist eigentlich für den ganzen Schlamassel verantwortlich? – Natürlich ist jeder für sich selbst verantwortlich! Treu dem Sartreschen Motto: „Der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht“. Wenn wir es nicht schaffen in einer Welt voller Ratgeber über ein zufriedenes und glückliches Leben, glücklich und zufrieden zu sein, dann liegt die Verantwortlichkeit auf Seiten des Selbst, unabhängig in welcher politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Umgebung er sich befindet. Mit einem sarkastischen Unterton gibt Richter zu verstehen, dass alles zu haben, alles zu sein und/ oder alles zu tun, dennoch kein glückliches und zufriedenes Leben garantieren kann. Spätestens um ZWEI UHR NACHTS holt der Existentialismus uns ein und fragt nach dem authentischen Selbst.
„ZWEI UHR NACHTS“ ist genau wie „FOR THE DISCONNECTED CHILD“ (UA Schaubühne Berlin, 2013.) ein grandioses Schauspiel, das diverse Künste -Musik, Tanz, Schauspiel, Text, Video- in ein harmonisches Ganzes ohne jeglichen Makel zusammenfügt. Die Musik von Helgi Hrafn Jónsson und Valgeir Sigurdsson erweitert und untermalt wundervoll mit ihren Klängen die melancholischen und aufreibenden Szenerien, die voller Emotionen sind. Aber auch die Tänzer erweitern das gesprochene Wort und ersetzen es manchmal ganz durch Tanz, sodass der immer wiederkehrende Wunsch nach einer neuen Ausdrucksmöglichkeit gegeben ist. Neben Musik und Tanz als neue Sprachen, ist auch Chris Kondeks Videoinstallation über die Frankfurter Großstadt hervorragend und schafft nicht nur eine neue Ebene, sondern vergegenwärtigt gelungen in einigen Szenen Einsamkeit, Verlassenheit und die Kälte in einer Großstadt.
[caption id="attachment_398" align="alignright" width="300"] Foto: Birgit Hupfeld_Jorijn Vriesendorp_Marc Oliver Schulze.[/caption]In der vorletzten Szene bei der alle Genres -Tanz, Musik, Video, Text- aufeinanderprallen, sind es in erster Linie die Bilderfluten, die mit mehreren Leinwänden bei den Zuschauern eine Überforderung der Aufnahmefähigkeit erzielen und dadurch bestens eine Analogie zu unserer transparenten Optimierungsgesellschaft mit ihren Leistungssubjekten herstellt. Getrieben aus den Momenten der Unruhe, tauchen bei den einzelnen Darstellern Sinnkrisen auf, wie so häufig in Richters Werken auf der Suche nach alternativen Lebens-, Arbeits- und Beziehungskonzepten. Aber können gefundene Alternativen wirklich einen Ausweg garantieren? – Gefangen im eigenen System, kommt die Identität abhanden und der Mensch ist nur noch eine Ressource; wie in dem Sci-Fi-Thriller „The Matrix“. Traum und Realität verschwimmen und die Sehnsucht nach einem anderen Leben macht sich breit. Jedes einzelne Mitglied des Ensembles „ZWEI UHR NACHTS“ trägt zu dieser atemberaubenden Inszenierung bei, sei es Constanze Becker als sarkastische Business-Frau, die wie jüngst die Unternehmen Apple und facebook ihren weiblichen Angestellten anbietet, ihre Kinder einzufrieren, oder Lisa Stiegler, die der Frau eine zentrale Stimme im Spiel gibt -was ich sehr lange Zeit bei Richters Inszenierungen vermisst habe- oder Marc Oliver Schulze, der auf der Suche nach sich und dem Anderen ist. „ZWEI UHR NACHTS“ ist eine herausragende Inszenierung und ich hoffe sie bleibt dem Schauspiel Frankfurt erhalten.
Schauspiel Frankfurt (Bockenheimer Depot)| Premiere 1.2.2015| Weitere Informationen und Aufführungstermine: https://www.schauspielfrankfurt.de/spielplan/premieren/2-am/#
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