Notizen aus der Anstalt

Schriftsteller Thomas Melle erzählt in seinem autobiografischen Werk >>Die Welt im Rücken<< von seiner manisch-depressiven Erkrankung und von dem Zusammenstoß von sich und der Welt.

Neuronen explodieren in Thomas Melles Kopf, während er Thomas Bernhard im McDonald‘s am Wuppertaler S-Bahnhof sieht, oder als Björk in einer Bar gleich nebenan nur für ihn singt. Im Rausch seiner paranoiden Schizophrenie gefangen, durchquert er im Höhenflug unterschiedliche Orte und hat mit Prominenten, wie Madonna Sex. Was für einige seiner Mitmenschen unerreichbar scheint, erlangt der deutsche Schriftsteller Thomas Melle in nur einigen Stunden oder Minuten. Durch sein intensives und extremes Gefühlsleben steigt der Autor bis zum Messias auf, erlebt die abenteuerliche Welt voller Farben und nur für ihn zu entschlüsselnde Chiffren. In seiner manischen Phase erscheint alles möglich und er ist immer nur einen Schritt bis zur völligen Selbstzerstörung entfernt. Nach dem Höhenflug, kommt die Depression und Melle findet sich in einer Psychiatrie wieder, oder wie er es nennt, >>ein Sammelsurium von Fehlexemplaren<<. Dort erfährt der Autor von seiner Bipolarität, von der Disposition im Gehirn, die dafür sorgt, dass seine Persönlichkeitstruktur über manisch-depressive Eigenschaften verfügt. Immer wieder heißt es nun für ihn, Achterbahn fahren. Größenwahn, Zusammenbruch, Wiederherstellen.

Etwas stimmte also nicht. Ich meinte: mit der Welt. Er meinte natürlich mit mir.

Mit poetischer Authentizität beschreibt der Autor Thomas Melle in >>Die Welt im Rücken<< (erschienen im rororo Taschenbuchverlag am 20.2.2018) auf 352 Seiten seine manisch-depressiven Schübe und sein Gefühl von toter Materie, >>Ich sitze da. Ich bin nichts. Etwas sitzt da und ist nicht mehr.<< (S.115) Sein Krankheitsbericht ist in vielerlei Hinsicht sprachlich gewaltig. Mal wütend, voller Adrenalin und dann verletzend und voller Tiefe; >>Jeder Tod, den ich sterbe, ist ein weiterer Verrat an der Wahrheit.<< (S.27) Die Sprache in >>Die Welt im Rücken<< passt sich den Stimmungen von Melle an, versucht Gedanken festzuhalten und Geschehenes zu rekonstruieren. Sein Bericht erzählt detailliert von der Zerbrechlichkeit des Seins, das heißt von der prekären Persönlichkeitsstruktur bei manisch-depressiv Erkrankten. >> (…) das Leben des Depressiven, das Leben des Manikers und das Leben des zwischenzeitlich Geheilten. Letzterem ist nicht zugänglich, was seine Vorgänger taten, ließen und dachten<< (S.111) Melles Notizen und Erfahrungsberichte aus psychiatrischen Anstalten sind theoretisch unterwandert und lockern mit Zynismus die trostlose und angespannte Atmosphäre auf, >> Und hören Sie Stimmen? – Was? – Stimmen? Hören Sie? – Ja, Ihre. Ganz deutlich. – Das meine ich nicht. Andere Stimmen?<< (S.22) und verschaffen den Lesern nicht nur einen Einblick in das tragische Krankheitsbild, eins an Bipolarität erkrankten Mannes, sondern auch in die Kulturszene, in der Thomas Melle zu Hause ist.

So gesehen, ist Melles Werk >>Die Welt im Rücken<< auch ein Kultroman, in dem der Schriftsteller die Kulturszene des 20. Jahrhunderts nachzeichnet. Er spricht nicht nur von der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Künstler*innen, wie Jule Böwe, sondern auch von Moden, wie der >>Pollesch-Sprech<<. So gelungen das autobiografische Werk >>Die Welt im Rücken<< auch sein mag, ist es dennoch mit seinen fast 400 Seiten etwas zu lang. Die Schilderung von drei aufeinanderfolgenden Episoden der Bipolarität zieht sich etwas, unter anderem auch weil Verhaltensweisen und Erlebnisse sich wiederholen. Komprimierter wäre >>Die Welt im Rücken<< etwas weiter von einem poetischen Krankheitsbericht entfernt und näher an einem autobiografischen Kultroman.

Thomas Melle: >>Die Welt im Rücken<<, erschienen am 20.2.2018 im rororo Taschenbuch (Rowohlt Verlag) Reinbek. Kosten: 9, 99 Euro, https://www.rowohlt.de/taschenbuch/thomas-melle-die-welt-im-ruecken.html

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