Europa kam übers Meer; heute würde sie abgeschoben werden…

Das internationale Künstlerkollektiv andcompany&Co., welches sich 2003 in Frankfurt am Main gegründet hat und momentan in Berlin stationiert ist, präsentierte Ende Januar im FFT Juta sein Musiktheaterstück „Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper“ und macht dort der Europäischen Union mit seiner Grenzschutzagentur Frontex den Prozess, in dem sie politische Gegenwart und griechische Mythologie aufeinanderprallen lassen.

Das antike Thrakien bekannt als wundersame Traumlandschaft und Paradies für Ornithologen, ist umgeben vom Fluss Evros (Meriç), der durch Griechenland, Bulgarien und Türkei fließt. Es hat zugleich eine äußerst dunkle Seite: es ist militärisches Sperrgebiet. Dabei bildet der Fluss Evros die südöstliche Außengrenze Europas und meterhohe Zäune und Minenfelder schotten diese vom Westen ab. Thrakien ziert heute neben seiner Traumlandschaft mit diversen Zugvögeln, auch ein Ufer aus zahlreichen toten Geflüchteten. Es ist ein Totenreich; welches die Flüchtlingsströme wieder in Richtung Mittelmeer weisen soll. Orpheus, der in der griechischen Mythologie für seinen betörenden Gesang berühmt ist, wurde von den Erinnyen zerissen und verlor seinen Kopf im Fluss Evros, weil er seine Geliebte die Nymphe Eurydike aus der Unterwelt befreien wollte.

Griechische Mythologie und Gegenwart lassen Evros zu einem Totenmeer werden, in dem – genau wie in Hades Unterwelt – tote Seelen schwimmen.

Angekommen im fiktiven Thrakien, werden wir von einer Gruppe von Schleppern begrüßt, die uns von A nach B bringen wollen. Schlepper betreiben nämlich den Im- und Export von geistigen Gütern. Sie sind die modernen DDR-Fluchthelfer. Nach und nach erzählen sie mehr über ihre Aufgaben, Anliegen und Probleme. Beispielsweise fühlt sich Schlepper Alex (Alexander Kaschina) in seinen Rechten als Schlepper verletzt, weil sein Service nicht transparent genug ist, um auf dem Kapitalmarkt zu überleben. Nur der Grenzschutz Frontex, der sein Engagement durch die EU erhalten hat, kann auf dem Markt bestehen. Dabei arbeitet Frontex noch nicht mal genau. Der Grenzschutz zählt nämlich immer nur Geflüchtete, die es nach Europa geschafft haben und klammert die toten Menschen einfach in ihren Statistiken aus. Weiter bedient sich die Agentur aus der griechischen Mythologie, um ihre Operationen zu verschlüsseln. Die Schlüsselwörter verweisen primär auf Einsatzgebiete. Beispielsweise Operation Hermes von 2011, die auf den Einsatz an der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa verweist.

andcompany&Co. formulieren in ihrer Schlepperoper ein klares Statement: Die EU hat ihre Ideale verraten als sie Frontex beauftragten. – „Wo ist Deine Seele Europa? Hattest Du überhaupt eine?“ – Menschen sind zu Waren mit Gütesiegel verkommen. Heute würde sogar die Göttin Europa, die Namensgeberin der Europäischen Union ist, abgeschoben werden, weil sie mit dem Stier (alias Hermes) über das Mittelmeer nach Kreta gekommen ist. Das Kollektiv hat auch ein passendes Schlüsselwort für die Grenzschutzagentur Frontex und zwar: Orpheus. Der griechische Sänger Orpheus hat in seiner Sage nicht nur seine Geliebte aus der Unterwelt befreit, sondern sie auch wieder in die Unterwelt zurück manövriert, in dem er wider Hades Versprechen sich aus Liebe zu ihr umgedreht hat, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Genau wie Orpheus aus reiner Liebe stürzt Frontex die Geflüchteten zurück ins Mittelmeer und lässt über 20 000 Menschen aufm offenen Meer sterben.

Das politische Musiktheaterstück „Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper“ von andcompany&Co. lässt Orpheus als singenden Schlepper für Flüchtende auftreten, der Anklage erhebt, weil der Weg nach Europa übers Totenreich führt. Inspiriert von Monteverdis Ur-Oper „L’Orfeo‘ aus dem Jahr 1607 und der Orpheus-Sage verarbeitet das Kollektiv Musik, Mythologie, dokumentarisches Material und Schicksale von Geflüchteten zu einer neuen und alten Geschichte, in der die aktuelle Realität des Grenzgebiets mit griechischer Mythologie kollidiert und zeigt, dass Menschlichkeit an der EU-Außengrenze schon lange ein Mythos ist. Dabei werden die Erzählungen von den Schleppern immer wieder mit Dokumentationen über das Sperrgebiet Thrakien, von Textblöcken zu Asylantrag und Frontex sowie Gesängen unterbrochen. Diese Unterbrechungen verleihen dem Stück seine Lebendigkeit, sodass das ganze theoretische Fundament sorgfältig aufgenommen werden kann. Auch die Gesänge des Bariton waren sehr gelungen und klar, sodass eigentlich gar keine Übertitel notwendig gewesen wären.

Aktuelle Spieltermine sind auf der Seite des Kollektivs einsehbar: http://www.andco.de/

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