Skeptizismus: Das politische Theater lebt?!

Von politischem Theater und flexiblen Arbeitswelten – Überlegungen zu Theatertexten von Widmer, Richter und Pollesch“ von Muriel Ernestus, welches 2012 im sine causa Verlag in Berlin erschienen ist, umreißt die Geschichte des politischen Theaters mit ihren theoretischen Modellen bis zu Birgit Haas und konzentriert sich anschließend auf drei bedeutende postdramatische Theaterautoren Widmer, Richter und Pollesch, um den „flexiblen Menschen“ der kapitalistischen Arbeitswelt im politischen Theater zu untersuchen.

In der deutschen Theaterszene geht das Gerücht herum, dass es heutzutage kein ‚wirkliches‘ politisches Theater mehr gibt und fragt man diese Skeptiker, was sie für politisches Theater halten, wurde es ganz still. Der Begriff des politischen Theaters ist sehr offen gefasst, sodass man ihn unterschiedlich füllen kann, wie der Autor Muriel Ernestus in seiner neuen Studie „Von politischem Theater und flexiblen Arbeitswelten – Überlegungen zu Theatertexten von Widmer, Richter und Pollesch“ im Kapitel „Terminologisches Defizit“ erläutert. Zur Beseitigung des „terminologischen Defizits“ umreißt der Autor die ganze Geschichte des politischen Theaters, wobei natürlich die „Väter des politischen Theaters“ Erwin Piscator und Bertolt Brecht etwas ausführlicher besprochen werden, weil sie das Fundament für das politische Theater legten. Beide führten Plakate, Projektionen, Lieder und Filme in ihre Theaterstücke ein, die für eine Erweiterung und Vermittlung von lehrhaften Elementen sorgten. Beispielsweise dienten Projektionen als Mittel der Texterweiterung.

Piscator sowie Brecht machten das Theater zu einem Ort der Revolution, in dem sie politische Problematiken mit Realitätsgehalt auf die Bühne brachten und durch das Einsetzten neuer Stilelemente das klassische Theater zerstörten. Das Engagement auf der Bühne greift Ernestus in seinem „Exkurs: Der Kampf ums Engagement“ explizit auf und vollendet somit die Geschichte des politischen Theaters mit der Hans-Thies Lehmann Kritikerin Birgit Haas. In diesem Exkurs wird auch deutlich, dass Ernestus den Begriff des politischen Theaters von Hans-Thies Lehmann vertritt, wobei er Lehmanns Ästhetisierung des Politischen als bloße Reduzierung auf die Form entlarvt und zugleich ergänzt, dass politisches Theater auch einen politischen Kontext in sich tragen müsse. Diese Kontextualisierung des Politischen lässt sich für Ernestus seit Mitte der 90er Jahre wieder in zahlreichen Theaterstücken feststellen. Vor allem die Arbeitsweltstücke, welche die „Lebens- und Arbeitswelt des flexiblen Menschen“ thematisieren, behandeln nach Ernestus gegenwärtige politische Themen wie den Wandel der Arbeitswelt infolge von Globalisierung und Neoliberalismus.

Bevor Ernestus Theaterstücke von Urs Widmer, Falk Richter und René Pollesch auf den „flexiblen Menschen“ hin untersucht und feststellt, wie politisches Theater sich heutzutage im deutschen Theater offenbart, erläutert er Richard Senetts Begriff des „flexiblen Menschen“. Nach Senett muss der Mensch heute genau wie der kapitalistische Markt flexibel sein und sich an seine Arbeitsumgebungen anpassen, nur dann ist ihm ein beruflicher Erfolg garantiert. Das Phänomen der „flexible Mensch“ lässt sich nach Muriel Ernestus sehr gut in Urs Widmers Theaterstück „Top Dogs“, Falk Richters „Das System“ und schließlich in René Polleschs „Heidi Hoh“-Triologie, „Telefavela“ und „Pablo in der Plusfiliale“ erkennen und analysieren, sodass er mit diesen drei Dramatikern die aktuelle Lage des politischen Theaters vergegenwärtigt und den gegenwärtigen Skeptikern über das politische Theater mit seiner angeblich nicht vorhandenen politischen Aktualität erfolgreich widerlegt.

Die aktuelle Studie von Muriel Ernestus „Von politischem Theater und flexiblen Arbeitswelten – Überlegungen zu Theatertexten von Widmer, Richter und Pollesch“ ist ein gut logisch-aufgebautes und dank seiner einfachen Sprache, ein sehr verständliches Buch. Das Laien sowie Theaterwissenschaftler*innen ein fundiertes Wissen über die Geschichte des politischen Theaters vermittelt. Es ist besser als jedes Grundlagenbuch über politisches Theater, das ich je in meinen Händen hatte. Es beschreibt kurz und knapp (aber sehr ausführlich) die wichtigsten Phänomene des politischen Theaters. Sogar Hans-Thies Lehmanns Kontrahentin Birgit Haas, die eher selten in Büchern über politisches Theater erwähnt wird, findet in dieser Studie einen Platz. Deswegen kann diese Studie auch als Grundlagenwerk über politisches Theater dienen und nicht nur als Studie über Sennetts „flexibler Mensch“ und dessen Widerspiegelung in postdramatischen Theaterstücken.

Das politisches Theater lebt seit Mitte der 90iger Jahre wieder auf, wie Ernestus mit seiner ausführlichen Analyse postdramatischer Stücke von den erfolgreichen Dramatikern Richter und Pollesch beweist. Deswegen sollte jede*r Theaterliebhaber*in einen Platz in seinem Bücherregal für dieses Werk einräumen.

Muriel Ernestus,„Von politischem Theater und flexiblen Arbeitswelten – Überlegungen zu Theatertexten von Widmer, Richter und Pollesch“ Berlin: sine causa Verlag, Mai 2012. ISBN 978-3-941033-20-7, 364 Seiten, 19,90 €.

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