Trubel und Tumult Unter Eis

„Unter Eis“ mit dem Unterhaltungswert eines Polleschs auf die Bühne. Blaues Licht. Irgendwie kalt. Eine weiße Treppe, die zu einem Glaskasten führt. Dunkelheit breitet sich aus und Paul Niemand (Sven Walser), ein verbrauchter Unternehmensberater zwischen 40 und 50 Jahren, tritt auf. Minutenlange Stille. Monolog: „Himmel stürzt gegen Horizont/ Ich/ Rannte und rannte/ schrie der Sonne entgegen/ Still/ Keine Antwort/ Die Sonne hörte mich nicht/ Ich/ Rannte und rannte/ Das Universum schwieg/ Das Universum sah mich nicht, fühlte, hörte, spürte nicht/ Es gibt mich nicht, es gibt mich nicht, ich bin gar nicht da […]“ Ein sanftes Sonnenlicht strahlt auf Paul Niemands Gesicht, wird immer heller und Niemand fuhr fort: „Festgefroren unter Eis/ Schnee/ Kalt/ Kalt Kalt Kalt Eis Eis Eis/ Still Stillstand/ Begraben, begraben unter Eis, tiefe Eisdecke […]“. Weg von der melancholischen Kälte eines Paul Niemands, der „outgesourct“ wird, hin zu den jung-dynamischen Unternehmensberatern Karl Sonnenschein (Daniel Fries) und Aurelius Glasnapp (Jonas Anders). Im schnellen Sprechtempo werfen sie auf ihrer sekundären Bühne, welche mit bunten Lichtern ausgestattet ist, Wörter in den Raum: „Risiko akzeptieren/ Möglichkeiten schaffen/ Kreatives Denken zur Verfügung stellen/ Chancen, die der Markt bietet, zu Kapital machen/ [Effizienz/ Offen sein für neue Konfrontationen/ Niemals stehen bleiben] Motivation demonstrieren, neue Aufgaben übernehmen, neue Fähigkeiten erlernen/ [Selbstoptimierung] […]“ Fast das ganze sprachliche Repertoire der Wirtschaft wird dem Zuschauer um den Kopf geworfen. Das schnelle Sprechtempo, die vielen bunten Lichter und die schwungvolle Musik von Jörg Follert holen den Zuschauer aus der bewegungsunfähigen Kälte und eröffnen ihm eine Welt modernster theatraler Unterhaltungskunst. Die Inszenierung „Unter Eis“ konkretisiert unsere Transparenzgesellschaft mit dem Einsatz von Kameras und versinnbildlicht mit den Unternehmern Niemand, Sonnenschein und Glasnapp die Hyperaktivität und das Verlangen des ständigen sich selbst Optimieren-Wollens unserer Gesellschaft. Das schnelle Sprechtempo und der sportliche Körpereinsatz der einzelnen Darsteller*innen helfen dabei.  Die Monologe von Paul Niemand (Sven Walser) verkörpern sehr gelungen die Kälte des Textes genauso wie seine festgefrorene Haltung. Das Paradoxe Sonnenlicht auf Paul Niemands Gesicht beim ersten Monolog des Stücks tut dem kein Abbruch, weil der Regisseur Pedro Martins Beja das Stück „Unter Eis“ leicht ins Absurde driften lässt. So werden Paul Niemands melancholische Monologe immer wieder von den zwei aktiven Unternehmern mit Tipps zur Selbstoptimierung unterbrochen. Konstruktives Feedback nennt man das. Kinder werden bis ins Groteske als wertvolle Ressourcen vorgestellt. Beispielsweise soll eine Gruppe von Kindern Geschenke einfangen, die aufgrund ihrer Höhe unerreichbar scheinen. Nur Paul Niemands Alter Ego erkennt das Problem und löst es, indem er sich ein Stuhl holt, um eine fingierte Waffe zu ergattern. Prompt bekommt er einen Job im Marketingunternehmen und darf die Treppen zum Glaskasten alias Tempel der Unternehmer erklingen. Besonders humorvoll ist hier die Parodie von Chancengleichheit, die Beja in Anmut von Karl Sonnenschein (Daniel Fries) vorführen lässt: Als ich ein kleiner Junge war, pflügte ich mit meinen Traktor unsere Felder, dann die Felder ganz Rumäniens und seiner Nachbarländer. Schließlich pflügte ich alle Felder Europas, Asiens und Amerikas und folg mit dem Traktor zum Mond. Und als ich die Felder des Monds gepflügt hatte, dann pflügte ich das ganze Sonnensystem. Nicht nur hier wird die Kritik an unserer neoliberalen Gesellschaft deutlich, sondern die Kritik an unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist eine fundamentale Prägung der Inszenierung „Unter Eis“. Oder würden Sie ihr Kind in eine Schule schicken mit einem Immigrantenanteil von 95%?, fragt Daniel Fies. [caption id="attachment_217" align="aligncenter" width="300"]UnterEis_Walser_Anders_Fries_Foto:SebastianHoppe UnterEis_Walser_Anders_Fries_Foto:SebastianHoppe[/caption] Mein besonderer Liebling der Inszenierung ist Bejas farbfrohe und originelle Ästhetik, wie beispielsweise Daniel Fries in der Kostümierung von Lewis Carrolls Alice. Und natürlich die hervorragende Durchbrechung der vierten Wand durch die Interaktion von Darsteller und Zuschauer*innen. Schließlich erfährt „Unter Eis“ unter der Regie von Pedro Martins Beja und den Schauspielern Jonas Anders, Daniel Fries und Sven Walser ein grandioses Comeback mit hohen künstlerischen Unterhaltungswert, das stark an Renè Pollesch erinnert. Chapeau! Düsseldorfer Schauspielhaus: Sa. 2., Mi.6.*, Mo. 11.*, So. 17., Fr. 29. November | 19.30 Uhr | Kleines Haus | *19h Einführung Karten unter (0211) 36 99 11 oder http://duesseldorfer-schauspielhaus.de/de_DE/Vorstellungen/Unter_Eis.953498]]>

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